Zwei Wochen bevor die Nord Stream Gas-Pipeline durch Explosionen zerstört wurde, kreuzten unter anderem ein Aufklärungsschiff und eine Fregatte der Deutschen Marine in den Gewässern östlich von Bornholm. Vom 9. bis 14. September verbrachten die beiden Militärschiffe insgesamt sechs Tage in der Nähe der späteren Anschlagsorte, wie aus Daten der kommerziellen Plattform MarineTraffic (Professional) hervorgeht. Die Schiffe nahmen Teil an einem Seemanöver der namens „Northern Coasts 2022“, das auch ein deutsches U-Boot und einen Minenjagdboot miteinschloss.
Angesichts der Menge an Sensoren und Aufklärungsequipment an Bord dieser Schiffe stellt sich die Frage, ob sie irgendetwas Verdächtiges während ihres Manövers bemerkten.
von Sebastian Okada
Die Öffentlichkeit wird immer noch völlig im Dunkeln über Täter und Umstände des Angriffs auf die deutsch-russische Pipeline gelassen. Aber ein paar Details rund um den Vorfall sind in letzter Zeit ans Licht gekommen. Die Frage, wann genau die Sprengladungen an den Pipelines platziert wurden, ist dabei besonders von Interesse, da diese letztendlich zu der Antwort führt, wer den Anschlag verübte. Theoretisch könnten die Bomben bereits wochen- oder monatelang auf dem Meeresboden gelegen haben, bevor die Täter sie am 26. September auslösten. Aber es scheint zunehmend wahrscheinlich, dass die Sprengladungen Mitte September gelegt wurden.
Ein Puzzleteil, das in diese Richtung weist, ist, dass zwei militärische Patrouillenboote der schwedischen und dänischen Marine sich wiederholt in den Gewässern östlich von Bornholm umgesehen zu haben scheinen. Dies geschah am 22. und 24. September, wenige Tage vor den Explosionen am 26. September.
Ein zweiter Hinweis in Richtung Mitte September kam kürzlich in einem Bericht des US-Magazines WIRED. Demnach sind zwei “Dark Ships”, also Schiffe, deren Tracking-Sender ausgeschaltet waren, am späteren Tatort der Pipeline-Explosionen gesichtet worden. Der Artikel nannte keinen genauen Zeitpunkt, aber sie hätten die Orte „in den Tagen unmittelbar vor der Entdeckung der Lecks“ angefahren. Das hört sich nach wenigen Tagen an, und nicht Wochen oder Monaten.
Vor diesem Hintergrund haben wir Schiffsbewegungen auf MarineTraffic nach möglichen Anomalien Mitte September untersucht. Die Daten dieser kommerziellen Plattform basieren auf dem Automatischen Identifikationssystem (AIS) von Schiffen, ein Trackingsystem, das Kollisionen verhindern soll und die Nachverfolgung von Warenlieferungen ermöglicht. Militärische und zivile Schiffe können ihre AIS-Sender jedoch auch abschalten.
Die Ergebnisse unserer Auswertung zeigen, dass sich die deutsche Marine zwei Wochen vor der Explosion mehrere Tage in einem Bereich nahe der Anschlagsorte aufhielt, den Experten als Aufklärungsreichweite bezeichnen. Die fraglichen Schiffe waren mit hochentwickelten Sensoren ausgestattet, die es erlauben, Signale und Bewegungen sowohl über als auch unter Wasser aufzufangen.
Das Aufklärungsschiff

Die Bundeswehr nennt sie ihre „Augen und Ohren“: Die in den 1990er Jahren gebaute „Oste“ A52 (oben im Jahr 2018) ist ein Aufklärungsschiff – im deutschen Militär-Jargon auch Flottendienstboot genannt – das mit elektronischen, optischen und hydroakustischen Sensoren ausgestattet ist. Einzelheiten über seine Ausrüstung sind kaum zu erfahren, da sie natürlich der Geheimhaltung unterliegen. Laut Marineexperten gibt es generell verschiedene Arten von passiven Sonaren, die je nach Umgebungsbedingungen zum Zeitpunkt der Aufklärung eine Reichweite von 30 Seemeilen (55 km) haben können.
Einige Typen, wie die so genannten „Dip-in“-Sonare, haben eine wesentlich größere Reichweite. Sie werden von einem Schiff oder Hubschrauber aus per Kabel ins Meer abgelassen und erreichen so tiefere akustische Kanäle im Wasser. Diese Kanäle können unter den richtigen Umständen Schallwellen aus größeren Entfernungen als 30 Meilen auffangen.
Die „Oste“ war jedoch nicht das einzige Paar Augen und Ohren in den Gewässern östlich von Bornholm zwei Wochen vor den Detonationen. Sie erschien zusammen mit der deutschen Fregatte „Schleswig-Holstein“ (F216). In einer Entfernung von 9 bis 25 Seemeilen (17 – 47 km) von den späteren Explosionsorten #1 und #2 kreisten sie in den nächsten sechs Tagen vom 9. bis 14. September gemeinsam in dem Gebiet.


Die Bewegungen der beiden Schiffe waren Teil des Seemanövers „Northern Coasts“, das jedes Jahr von der deutschen Marine und ihren baltischen Nachbarstaaten abgehalten wird.
Die „Schleswig-Holstein“ war sogar das offizielle Führungsschiff der Übung. Einzelheiten des Einsatzes wurden jedoch aus Sicherheitsgründen nicht bekannt gegeben, da der Krieg Russlands gegen die Ukraine noch immer andauert. (Die Marineübung folgte auf die frühere und umfangreichere NATO-Übung BALTOPS, die vom 5. bis 17. Juni stattfand).
Die frei zugänglichen Tracking-Daten zeigten keine Militärschiffe anderer Nationen, die gemeinsam mit den Deutschen unterwegs waren, als sie zwischen dem 9. und 14. September östlich von Bornholm kreuzten. Laut einer späteren Pressemitteilung der deutschen Marine wurden sie bei den Manövern von dem deutschen U-Boot „U 32“ und dem Minensuchboot „Bad Bevensen“ begleitet. Letzteres tauchte tatsächlich am 13. September in den Tracking-Daten von MarineTraffic auf.
Das U-Boot-Jagdschiff
Die Fregatte „Schleswig-Holstein“, ebenfalls in den 1990er Jahren gebaut, wurde speziell für die U-Boot-Kriegsführung, d.h. das Aufspüren von Unterwasserbewegungen, konzipiert. Sie verfügt über ausgeklügelte Sensoren unter ihrem Rumpf, die Aktivitäten auch in größerer Entfernung wahrnehmen können. Seine Aufklärungsreichweite unter Wasser wird auf mehrere Dutzend Seemeilen geschätzt, abhängig von den natürlichen Gegebenheiten und der Größe des Zielobjektes.

Das Minenjagdboot
Mitten in der Nacht, um 02:30 örtlicher Zeit am 13. September, gesellte sich das deutsche Schiff M1063, auch „Bad Bevensen“ genannt, zu den beiden anderen. Das Schiff ist auf das Aufspüren und die Räumung von Unterwasserminen spezialisiert. Es verfügt über eine per Glasfaserkabel betriebene Drohne, den so genannten „Seefuchs“, der als Auge und Ohr des Schiffes unter Wasser fungiert und bei Bedarf Minen entschärfen kann.


Es ist ein interessanter Zufall, dass ausgerechnet ein Minensuchboot in den Gewässern östlich von Bornholm eintraf, zwei Wochen bevor die nahegelegenen Pipelines mit einer Sprengkraft von ca. 500 Kilogramm TNT in die Luft gejagt wurden. Haben die anderen Schiffe, die „Oste“ oder die „Schleswig-Holstein“, bei ihren Manövern etwas Ungewöhnliches entdeckt?
Offenbar hielt sich das Minenboot zusammen mit seinen beiden Schwesterschiffen mindestens 31 Stunden lang in dem Gebiet auf (13. September 01:36 UTC bis 14. September 08:26 UTC), bevor sein Ortungssignal verloren ging und es sich offenbar auf den Weg nach Klaipeda, Litauen, machte, wo es am Morgen des 15. September eintraf.


Auslaufen aus dem Gebiet
Kurz nach dem Minenräumboot verließen auch die „Oste“ und die „Schleswig-Holstein“ nach sechs Tagen schließlich die Gewässer östlich von Bornholm. Sie erreichten einen Tag später, am Morgen des 16. September, den Hafen von Klaipeda in Litauen. Dort legten sie eine Übungspause ein, hieß es in einer späteren Pressemitteilung der Deutschen Marine.

Ein kleines Erdbeben
Wer auch immer für die Unterwasserexplosionen am 26. September verantwortlich war, er hatte sich eine besonders dunkle Nacht ausgesucht, um die erste Bombe zu zünden. In dieser Nacht war Neumond und das Meer lag schwarz unter dem baltischen Himmel, als die erste Sprengladung um 02:03 Uhr Ortszeit (00:03 Uhr UTC) in den Gewässern südöstlich von Bornholm explodierte.
In diesem Moment, als der Meeresboden von einer Detonation der Stärke 2,3 auf der Richterskala erschüttert wurde, befand sich die „Schleswig-Holstein“ 56 Seemeilen (103 km) nördlich. Das deutsche U-Boot-Jagdschiff war auf dem Rückweg von Klaipeda in westlicher Richtung zum Kieler Hafen unterwegs.
Als die Sprengladung um 00:03 UTC (02:03 Ortszeit) explodierte, verlangsamte die „Schleswig-Holstein“ laut den Schiffsbewegungsdaten nicht einmal ihre Reisegeschwindigkeit von 18,5 Knoten (34 km/h). Dies deutet darauf hin, dass sie die Explosion wahrscheinlich nicht bemerkte.
Wenn der deutsche Wachoffizier in dieser Nacht nur geahnt hätte, dass 56 Meilen weiter südlich die wirtschaftlichen Interessen seines Landes gerade von Spezialkräften einer anderen Nation in die Luft gesprengt worden waren.
Anmerkungen
Die kommerziellen Daten, zu denen wir Zugang hatten, geben mit ziemlicher Sicherheit nur einen Teil aller Schiffe wieder, die in diesem Teil der Ostsee tatsächlich aktiv waren. Der von kommerziellen Plattformen übermittelte Schiffsverkehr beschränkt sich im Allgemeinen auf diejenigen, die ihre Position über offene Quellen (AIS) übermitteln, während militärische (und teilweise auch zivile) Schiffe die Möglichkeit haben, solche Übertragungen abzuschalten, auch wenn dies gegen das Seerecht verstößt. Außerdem gehen Trackingsender-Signale oft verloren, wenn Schiffe auf das offene Meer hinausfahren und sich außerhalb der Reichweite der Küstenempfänger befinden.
Offenlegung: Der Autor ist kein Marine-Ermittler oder Militärexperte, sondern ein Ermittler für Wirtschaftskriminalität. Für die Erläuterung von Kontext wurden Militärexperten hinzugezogen.
Zum Autor
Sebastian Okada leitet die Ermittlungsabteilung der Corporate Trust Business Risk & Crisis Management GmbH, einer internationalen Sicherheitsberatung mit Sitz in München. Er ist seit 18 Jahren als Ermittler tätig.
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