kann man Sicherheitsrisiken anhand von Statistiken ableiten?

Auf Initiative der Generalversammlung der UN wurde 2010 der Weltstatistiktag eingeführt. Nun soll er alle 5 Jahre durchgeführt werden. Am 20.10.2020 stand er unter dem Motto „Connecting the world with data we can trust“. Auch wenn es damit 2022 keinen Weltstatistiktag gibt, sondern erst wieder 2025, stellt sich in Zeiten von „deepfake videos“ und „alternativen Fakten“ die Frage, welchen Daten und Statistiken man überhaupt trauen kann

Die Polizeiliche Kriminalstatistik, kurz PKS, wird jährlich vom Bundeskriminalamt (BKA) veröffentlicht und gehört sicher zu den vertrauenswürdigen Quellen. Damit stellt sich aber immer noch die Frage, wie gut sich künftige Sicherheitsrisiken an solchen Statistiken ableiten lassen.

Wie immer beim Risk Management hat man nur die Daten der Vergangenheit und versucht an aktuellen Trends bzw. möglichen Entwicklungen die Sicherheitsrisiken von morgen zu prognostizieren. Statistiken können dabei helfen, müssen aber genau hinterfragt und die richtigen Schlüsse daraus gezogen werden.

Als Beispiel, 2015 zählte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge insgesamt 476.649 formelle Asylanträge und damit 273.815 mehr als im Vorjahr – statistisch fast eine Verdoppelung. Vor allem nach der Sylvester-Nacht 2015/2016 hörte man Aussagen, dass die Kriminalität durch Ausländer massiv gestiegen sei und noch viel weiter steigen werde. Die PKS für 2015 sprach von einem Anstieg der Kriminalität um 4,1 Prozent, von 6.082.064 Straftaten in 2014 auf 6.330.649 Straftaten in 2015. Hört sich nach einer Bestätigung der oben genannten Aussagen an.

Tatsächlich, wenn man die PKS für 2015 genauer liest, war der Anstieg bei den Straftaten, ohne ausländerrechtliche Verstöße, jedoch bei annähernd 0 Prozent, nämlich bei 5.927.908 in 2015 im Verhältnis zu 5.925.668 in 2014. Das heißt, ohne die Straftaten, die sowieso nur von Ausländern begangen werden können, z.B. ein illegaler Grenzübertritt (weil ohne Pass), gab es faktisch gar keine Veränderung der Kriminalitätslage. Es lohnt sich also immer etwas genauer hinzusehen.

Betrachten wir uns die aktuelle PKS für 2021 und versuchen das Sicherheitsrisiko von morgen durch die Zahlen von gestern zu bewerten. Die Kriminalität allgemein, anhand der reinen Fallzahlen, ist seit dem Höchststand 2016 (insgesamt 6.372.526 gemeldete Fälle) bis 2021 (insgesamt 5.047.860 gemeldete Fälle) deutlich zurückgegangen. Die Gewaltkriminalität ist im letzten Jahr um 6,8 Prozent zurückgegangen (2020: 176.672 Fälle; 2021: 164.646 Fälle), die Straßenkriminalität im gleichen Zeitraum um 7,3 Prozent (2020: 1.023.791 Fälle; 2021: 949.131 Fälle) und der Wohnungseinbruchdiebstahl sogar um 27,7 Prozent (2020: 75.023 Fälle; 2021: 54.236 Fälle). Anstiege gab es jedoch bei der Cyberkriminalität um 12,1 Prozent (2020: 130.611 Fälle; 2021: 146.363 Fälle) und bei den Straftaten gegen die persönliche Freiheit um 10,6 Prozent (2020: 202.303 Fälle; 2021: 223.838 Fälle).

Was sagt uns dies nun? Deutschland wird immer sicherer, weil ja offensichtlich weniger Straftaten begangen werden? Eine mögliche Erklärung für den Rückgang der Kriminalität könnte hinter den Corona-Einschränkungen liegen. Da deutlich weniger Menschen im öffentlichen Bereich unterwegs waren und mehr zuhause verbrachten, auch tagsüber im HomeOffice, gab es vielleicht einfach weniger Möglichkeiten für Einbrüche, gewalttätige Auseinandersetzungen oder Straftaten, die auf der Straße begangen werden.

Tatsächlich ist davon auszugehen, dass Deutschland NICHT sicherer wird, sondern dass es zu einer teilweisen Verlagerung der Kriminalität kommt. Während die Organisierte Kriminalität (OK) früher beim Rauschgifthandel hohe Risiken eingehen mussten, um die Ware aus dem Ausland zu transportieren und über Dealer zu verteilen, ist es heute viel bequemer und gefahrloser, Firmen über ihre digitalen Strukturen anzugreifen. Hackerangriffe nehmen deutlich zu – die Steigerung der Cyberkriminalität um 12,1 Prozent macht das deutlich.

Der Anstieg um 10 Prozent bei den Straftaten gegen die persönliche Freiheit könnte ein Hinweis auf die veränderte Denkweise beim Umsetzen eigener Interessen sein. Was mir zusteht (wenn auch nur gefühlt), hole ich mir, notfalls auch mit Gewalt gegen Menschen. Es könnte ein Ausdruck von Verrohung und zunehmendem „Faustrecht“ sein. Aufgrund der aktuellen Situation in Deutschland, mit steigenden Energiepreisen und einer drohenden wirtschaftlichen Rezession, ist von einer weiteren Spreizung der Schere zwischen Arm und Reich auszugehen. Daher könnte das Thema Risiken für die persönliche Freiheit nochmal deutlich zunehmen, wenn Menschen in einer finanziellen Notsituation sich „ihren Teil vom Kuchen“ auf andere (kriminelle) Weise besorgen wollen.

Und noch ein interessanter Fakt für die Bewertung der tatsächlichen Bedrohung. Die PKS 2021 zählt 64 Fälle von Erpresserischem Menschenraub gem. § 239a Strafgesetzbuch, also der klassischen Entführung, um für die Freilassung des Opfers Geld zu erpressen. 2020 wurden in der PKS 73 Fälle aufgelistet. Laut Statistik ist dies ein Rückgang um 11 Prozent, wäre also ein verringertes Risiko. Betrachtet man dieses Delikt jedoch über einige Jahre, stellt man fest, dass die PKS 2019 auch schon 65 Fälle dokumentierte. Demnach sind es jedes Jahr im Schnitt um die 65 – 70 Fälle. Das Risiko hört sich nicht besonders hoch an und bleibt offensichtlich über die Jahre in relativ gleicher Höhe. Fakt ist trotzdem, auch bei anscheinend geringem Risiko, dass es für die Opfer ein Martyrium ist und für die 65 – 70 betroffenen Familien jeweils der Super-GAU.

Zum Autor:

Christian Schaaf war früher Kriminalbeamter und ist heute Geschäftsführer der internationalen Sicherheitsberatung Corporate Trust.

Tel. 089-599 88 75 80

schaaf@corporate-trust.de

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